Aus Toronto berichtet Julide Tanriverdi
Zahlreiche Promis, gestresste Journalisten, lange Schlangen an den Kinos. Das ist jetzt vorbei! 10 Tage lang wurden 349 Filme aus 55 Ländern in Toronto gezeigt. Mit Ausnahme der Prominenten ernährten sich die meisten in dieser Zeit von Sandwich, Müsliriegeln, Chips, Cookies und Coke - wer will schon Mittag essen, wenn er stattdessen einen Film mit Jake Gyllenhaal gucken kann? Viele haben dicke Ringe unter den Augen, denn der Schlafverlust ist enorm. 23 Filme stehen allein auf meiner Liste und die meisten sind über zwei Stunden lang (was ist eigentlich mit dem 90-Minuten-Film passiert?), das sind drei bis vier Filme pro Tag. Puh! Es ist ein Festival, wie man es aus Cannes, Berlin oder Venedig kennt - mit einer Ausnahme. Am Ende gibt es keine glamouröse Party, auf der goldene Statuen vergeben werden. Nur 20 Minuten dauert die Preisvergabe, bei die Gewinner von einem Blatt Papier vorgelesen werden. Kein großer Auftritt, keine flammenden Reden, nichts!
Warum ist dieses Festival aber dennoch wichtig? Ab September beginnt die sogenannte Oscar-Season, also die Zeit, in der die Studios ihre besten Filme zeigen. Denn im Januar werden die Nominierungen bekannt gegeben. Und ein alter Gag ist, dass die zahlreichen Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences (die die begehrte Goldstatue vergibt) ein schlechtes Gedächtnis haben und sich kaum an Filme erinnern können, die vorher gezeigt wurden. Deshalb gibt es hier Premieren der Werke, von denen das Studio glaubt, sie seien oscarträchtig. Gewinner aus den europäischen Festivals werden auch noch einmal präsentiert. Wer hier für Gesprächsstoff sorgt, bekommt zur Belohnung "Oscar-Buzz" – denn ab jetzt wird spekuliert, wer zu den begehrten Fünf pro Kategorie zählen wird. Und Medienwirbel kann nie schaden. In den vergangenen Jahren klappte das sehr gut - Filme wie "Brokeback Mountain", "Last King of Scotland" oder "Walk the Line" wurden in Toronto zum Gesprächsstoff und wurden mit zahlreichen Oscars belohnt. Lohnt sich also, diese Filme anzusehen.
Deshalb hier die kurze Liste der Preise, die nicht den kanadischen Film ehren (davon gibt es mehrere) und ihrer Gewinner: Der Prize of the International Critics (FIPRESCI Prize) ging an "La Zona" von Rodrigo Plás aus Mexiko/Spanien. Der Film untersucht das große Gefälle zwischen Arm und Reich in Mexiko anhand einer Beziehung zweier Teenager, der Cadillac People's Choice Award (gewählt vom Publikum) ging an David Cronenberg's "Eastern Promises". "Juno" von Jason Reitman und der Dokumentarfilm "Body of War" von Phil Donahue und Ellen Spiro belegten den zweiten und dritten Platz.
Und für unsere Gala.de-Leser habe ich ein paar weitere Toronto-Empfehlungen:
Beeindruckendste Darstellung "Eastern Promises". Das kanadische Publikum beweist Geschmack: Kult-Regisseur David Cronenberg dirigiert Viggo Mortensen zum zweiten Mal nach "A History Of Violence". Mortensen spielt beeindruckend einen russischen Immigranten in London, der für eine Mafiafamilie die schmutzige Arbeit macht. Naomi Watts, Vincent Cassell und Armin Müller-Stahl liefern ebenfalls gute Leistungen. Auch wenn die Story nicht so kommerziell ist, so ist der Film ein Muss für jeden Cineasten.
Liebes-Film zum Schmachten Keira Knightley ist verliebt in James McAvoy (sorgte zuvor für Aufsehen in "Last King of Scotland") in "Atonement". Regisseur Joe Wright hatte mit "Pride and Prejudice" bereits für einen Hit gesorgt. Schöne Bilder, traurige Story. Für den Romantik-Kick. Allein die Sexszene in der Bücherei lohnt sich!
Bester Gute-Laune-Film "Across the Universe" ist eine Liebesgeschichte in den 60ern mit Evan Rachel Wood. Die Story ist hauptsächlich durch Beatles-Songs erzählt, ies st also eine Art Musical. Hauptdarsteller Jim Sturgess ist eine Neuentdeckung (bisher nur im englischen TV zu sehen). Sänger Bono hat ein Cameo.
Originellste Story "Lars and the Real Girl". Ryan Gosling dated eine Sexpuppe in einer Kleinstadt - zum Schrecken der Familie und Anwohner. Skurril und lustig: der Indie mit Herz.
Blutigster Film mit Top-Besetzung "No Country for Old Men". Javier Bardem, der Oscar-Buzz genießt, lehrt hier die Zuschauer als psychopatischer Killer das Fürchten. Tommy Lee Jones und Josh Brolin zeigen sich ebenfalls von ihrer besten Seite. Regie führen die Kritiker-Lieblinge Ethan und Joel Coen (z.B. "Fargo")
Beste Rückkehr eines Altmeisters Peter Greenaway zeigte "Nightwatching" (Story über den Maler Rembrandt, gefilmt wie ein Rembrandt-Gemälde) und Claude Chabrol "La Fille Coupee En Deux" (eine Affäre der französischen Art mit schönem Humor). Aber den besten Film lieferte Sidney Lumet. "Before The Devil Knows You Are Dead" handelt von zwei Brüdern (Ethan Hawke und Philip Seymour Hoffman), die mit ihrem Leben nicht klar kommen. Sie planen deshalb das Juwelengeschäft ihrer eigenen Eltern auszurauben, was aber nicht so läuft wie gewünscht. Ein Meisterwerk. Oscar vielleicht für Lumet, Hoffmann, Hawke, vielleicht sogar Best Picture?
Wo sind George und Brad in der Liste? Lässt sich ganz leicht beantworten: Brads Film heißt "The Assassination of Jesse James By The Coward Robert Ford". Genauso lange wie man braucht, um den Titel zu lesen, ist auch etwa der Film (160 Minuten). Und erzählt auch so ziemlich die Handlung. Kritiker lieben das Werk übrigens (immer ein Zeichen dafür, dass die Academy, die die Oscars vergibt, besonders genau hinguckt). Und George? In "Michael Clayton" gibt er eine fantastische Darstellung eines männlichen Erin Brockovich (die Julia Roberts mal spielte) – als Anwalt, der sich mit einer großen Firma anlegt, die nur auf Profit aus ist. Alles klar?