VG-Wort Pixel

Mental Health Matters Sven Hannawald: "Das Nichtstun überforderte mich"

Sven Hannawald
Sven Hannawald
© GEPA pictures / imago images
Als Skispringer hatte Sven Hannawald alles erreicht, doch privat herrschte ein jahrelanger Ausnahmezustand. Irgendwann wollte sein Körper nicht mehr, erzählt er bei "Mental Health Matters". Der ehemalige Profisportler erkrankte am Burnout-Syndrom. +++ TW: Im Interview wird das Thema Burnout behandelt. +++

"Es musste erst richtig knallen, damit mir klar wurde, dass gar nichts mehr ging", erinnert sich Wintersportlegende Sven Hannawald, 46, im "Mental Health Matters"-Interview an seine dunkelsten Stunden.

Anfang 2002 gewann der ehemalige Profisportler als erster und bis heute einziger den Grand Slam der Vierschanzentournee, wurde zu "Deutschlands Sportler des Jahres" gewählt. Es war aber auch eine Zeit, die ihm alles abverlangte, denn Hannawald erkrankte am Burnout-Syndrom.

Wenn er die Skisprungschanze und das Siegertreppchen hinter sich ließ und die Tür zu seinem Hotelzimmer öffnete, war sie da: die unangenehme Stille, die er irgendwann nicht mehr ertragen konnte. Im Gespräch blickt der heutige TV-Experte und Botschafter der bundesweiten "Offensive Psychische Gesundheit" zurück auf Jahre im Ausnahmezustand, Klinikaufenthalt, Karriereende und erzählt, was ihm heute in der Erziehung seiner beiden Kinder wichtig ist.

Mit der Interviewreihe "Mental Health Matters" möchte GALA das Thema mentale Gesundheit in den Mittelpunkt rücken, aufklären und psychische Erkrankungen entstigmatisieren.

Sven Hannawald: "Ich konnte die Ruhe nicht mehr ertragen"

GALA: Meist ist ein Burnout ein schleichender Prozess. Wie war das bei Ihnen?
Sven Hannawald: Als Profisportler merkte ich schnell, wenn mein Körper nicht so funktionierte, wie ich es gewohnt war. Deshalb habe ich bereits anderthalb Jahre vor meiner Burnout-Diagnose versucht, mit verschiedensten Experten herauszufinden, was mit mir los war. Das Problem: Zu dieser Zeit war das Syndrom sehr unbekannt. Etliche Fachleute konnten nicht herausfinden, woran ich litt. Zeitgleich versuchte ich, mein Trainingspensum zu halten, obwohl ich merkte, dass nichts mehr ging. Dadurch wurde alles noch schlimmer.

Sven Hannawald gewann 2002 als erster Skispringer alle vier Springen der Vierschanzentournee (Grand Slam).
Sven Hannawald gewann 2002 als erster Skispringer alle vier Springen der Vierschanzentournee (Grand Slam).
© Martin Rose / Getty Images

Welche Burnout-Symptome hatten Sie?
Anfangs waren es Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Antriebslosigkeit. Beim Burnout überfordert man nicht nur permanent seinen Körper, sondern irgendwann auch den Kopf. Unruhe machte sich bemerkbar. Ich war froh, wenn ich allein gewesen bin. Doch als ich es war, konnte ich die Ruhe nicht mehr ertragen, habe mich bewegt und wurde dadurch noch müder. Ein Teufelskreis.

Gab es eine Situation, in der Sie realisiert haben, dass Sie ernsthaft krank sind?
Es musste erst richtig knallen, damit mir klar wurde, dass gar nichts mehr ging. Im Februar 2004 brach ich eine Saison zum zweiten Mal vorzeitig ab. Das erste Mal passierte das vor meiner erfolgreichen Saison 2001/2002. Im anschließenden Urlaub kam ich mit der Ruhe gar nicht mehr klar.

Das Nichtstun überforderte mich. Ich wachte nachts mit Tränen in den Augen auf und weinte tagsüber. Die Pause zwang mich zu erkennen, dass ich nicht mehr ich selbst war.

Ich ging zu einem Arzt für Psychosomatik, der mir endlich helfen konnte und mich in eine Klinik für Burnout einwies.

Zu diesem Zeitpunkt machten Sie Ihre Erkrankung und den Aufenthalt in einer Spezialklinik öffentlich. Woher nahmen Sie den Mut – zu einer Zeit, in der psychische Erkrankungen totale Tabuthemen waren?
Ich habe das selbst nicht als mutig empfunden. Ich konnte nie eine Rolle spielen. Deshalb war für mich immer klar: Wenn ich krank bin, verheimliche ich das nicht. Damals war ich einfach froh, dass ich jemanden fand, der mir den Grund für mein Chaos erklären konnte.

Hatten Sie damals Angst um Ihre Karriere?
Nein, da ich aus einer Einzelsportart kam. Da hatte ich alle Stricke selbst in der Hand, um wieder erfolgreich zu sein. Ich bin damals davon ausgegangen, "kurz" in die Klinik zu gehen und dann endlich wieder befreit Skispringen erleben zu können.

Wie haben Sie die Zeit in und nach der Klinik erlebt?
Nach zwei bis drei Wochen Anfangschaos in meinem Kopf konnte ich schnell vertrauen zu den Ärzten fassen. Die Therapie verlief erfolgreich. Gegen Ende der Klinikzeit habe ich mich so gut gefühlt, dass ich selbst nach Hause wollte. Ende April 2004 wurde ich entlassen und bin zu meinen Eltern gezogen. Schnell machte sich wieder ein unruhiges Gefühl breit. Mein Körper dachte, dass ich mein vorheriges Leben weiterleben würde – was aber nicht der Fall war. Er musste lernen, dass ich nun auf seine Bedürfnisse höre. Zudem hatte ich weiterhin Kontakt zu meiner Therapeutin aus der Klinik, die mir half. Die Unruhe verschwand langsam.

Hannawald über Karriereende: "Mein Körper hatte mir deutlich signalisiert: Das war es"

2005 beendeten Sie dennoch Ihre Profikarriere. Sie wollten Ihren Körper nicht mehr den Strapazen aussetzen. Wieso genau?
Mein Kopf begann sich wieder positiv mit dem Skispringen zu beschäftigen. Zu Beginn des Winters 2004 bin ich mit einem Trainer auf die Schanze gegangen und bin gesprungen. Ich konnte mir vorstellen, wieder an einer Tournee teilzunehmen. Doch nach circa zwei Wochen Training kam das unruhige Gefühl wieder – obwohl es eigentlich keinen Grund gab. Mein Körper hatte mir deutlich signalisiert: Das war es. Ich habe auf ihn gehört und wollte ihm das nicht mehr antun, weil ich gemerkt habe, dass ich die Leistung nicht mehr erbringen konnte.

Sven Hannawald mit seiner Ehefrau Melissa Hannawald. Das Paar hat zwei gemeinsame Kinder, Sohn Glen und Tochter Liv, und ist seit 2016 verheiratet. 
Sven Hannawald mit seiner Ehefrau Melissa Hannawald. Das Paar hat zwei gemeinsame Kinder, Sohn Glen und Tochter Liv, und ist seit 2016 verheiratet. 
© Spöttel / imago images

Wiegt der erreichte Legendenstatus die psychischen Strapazen im Nachhinein auf?
Es war zu viel, aber ich habe auch viel bekommen. Die Vierschanzentournee zu gewinnen war immer mein Kindheitstraum – den ich mir zum Glück erfüllen konnte. Wenn ich das Ergebnis nicht erreicht hätte, würde ich über die Strapazen vielleicht heute anders denken.

Würden Sie rückblickend etwas anders machen?
Ich würde Pausen zulassen und nicht direkt wieder an das nächste Springen denken. Darin war ich nicht gut.

Ich kam schlecht aus dem Wettkampfmodus raus und konnte kaum abschalten und mein Privatleben leben. Als ich dieses Ziel 2001/2002 erreichte, brach mein Kartenhaus nach und nach zusammen.

"Der Profisport ist ein knallhartes Geschäft"

Sie haben mal gesagt, dass Sie Ihren Körper ruinieren mussten, um so erfolgreich zu sein. Muss sich an den Bedingungen im Profisport etwas ändern?
Das ist eben der Unterschied zum Hobbysportler und ein knallhartes Geschäft. Wenn man oben an der Spitze sein will, schenkt man dem anderen nichts. Da muss man alles geben. Und das ist auch ok so. Im Profisport treffen Menschen aufeinander, die auf ein Ziel hinarbeiten, aber mit dem Bewusstsein, dass das nur für einen bestimmten Zeitraum geht – und nicht bis zur Rente.

Der mediale Ton im Profisport ist rau. Fehler werden mit niederschmetternden Schlagzeilen abgestraft. Was denken Sie über diese Form der Berichterstattung?
Das war auch schon zu meiner Zeit so. Mal wurde ich zum Beispiel von der "Bild" in den Himmel gelobt und mal wurde ich auseinandergenommen. Ich habe wenig über mich gelesen und habe das nicht an mich rangelassen. So funktioniert eben deren Geschäft. Das hat nichts mit meinem Wert als Mensch zu tun. Langweilige Artikel verkaufen sich nicht. Umso früher man das akzeptiert, desto freier kann man ans Werk gehen.

"Naomi Osaka war seit Langem die Erste, die auf ihren Körper hörte. Das finde ich super"

Wie sind Sie während Ihrer aktiven Zeit mit dem Druck der Medien umgegangen, Stichwort: Pressekonferenz nach einer Niederlage?
Nicht das Umfeld hat mich so verrückt gemacht, sondern ich mich selbst mit meinen perfektionistischen und ehrgeizigen Ansprüchen. Nach einer Niederlage, wenn ich nicht das abrufen konnte, was ich wollte, war ich zwar sauer. Bis zur Pressekonferenz hatte ich die Emotionen recht gut verarbeitet. Mein Scheitern habe ich nie meinem Gegenüber angekreidet, sondern immer mir selbst.

Tennisstar Naomi Osaka kam wegen ihrer sozialen Phobie nicht mit dem Druck der medialen Öffentlichkeit klar und zog sich zurück. Wie stehen Sie dazu?
Naomi Osaka war seit Langem die Erste, die auf ihren Körper hörte und sich zurückzog. Das finde ich super. Ihre Entscheidung stieß leider auch auf totales Nicht-Verständnis, weil viele denken: Sie hat die French Open gewonnen, gilt als Favoritin, der muss es doch gut gehen. Nein, eben nicht! So vielen Menschen geht es privat abseits des Rampenlichts sehr schlecht – weil sie, um so gut zu sein, alles geben müssen. Es ist ein harter Kampf, man hat für einen bestimmten Zeitraum wenig Luft. Daher ist es sehr wichtig, auf sich zu hören, sich Pausen zu genehmigen, um seinen Lieblingssport noch länger ausüben zu können.

Das ist Sven Hannawald wichtig in der Erziehung seiner Kinder 

Welchen Stellenwert haben Themen wie mentale Gesundheit und psychische Erkrankungen in der Erziehung Ihrer drei Kinder für Sie?
Die haben einen hohen Stellenwert. Meine Frau und ich achten auch sehr darauf, dass wir sie mit einer gesunden festen Basis in ihre Zukunft geben. Wir versuchen viel draußen zu sein, verschließen ihnen aber auch nicht alles Neue wie Fernsehen oder iPad. Alles in einem gesunden Maß. Alles wegschließen würde sie später nur komplett an das Neue binden. Falls sie selbst Sport machen wollen, würde ich das mit sehr sensiblen Antennen verfolgen und darauf achten, ob ihr Charakter sich dabei nicht in die falsche Richtung entwickelt.

Was raten Sie als Botschafter der bundesweiten "offensive psychische Gesundheit" anderen Betroffenen?
Sich nicht mit anderen vergleichen, wenn es einem schlecht geht. Jeder ist anders, der eine kann die Leistung erbringen, der andere aufgrund von Erlebnissen, Traumata oder Erziehung nicht. Wenn man merkt, dass man dauerhaft erschöpft ist und die Fröhlichkeit verloren geht, sollte man die Warnsignale ernst nehmen, nicht unterdrücken, sondern sich Hilfe suchen.

Es gibt keine einheitliche Burnout-Definition. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ein Burnout keine eigenständige Krankheit, sondern ein Problem "mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensführung". Das Syndrom wird als dauerhafter, negativer, arbeitsbezogener Seelenzustand emotionaler Erschöpfung beschrieben, der unterschiedliche Symptome zur Folge haben kann.

Hilfen bei Depressionen

Erkennen Sie bei sich Anzeichen einer Depression? Beim überregionalen Krisentelefon unter 0800 1110111 wird schnell und anonym geholfen! Weiterführende Informationen gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.

Verwendete Quelle: who.int

Gala

Mehr zum Thema

Gala entdecken