Schon von Weitem hört man Oscar Pistorius:
Tschwak, tschwak, twschak machen seine Prothesen, als er auf der Rennbahn herangelaufen kommt. Im nächsten Moment ist er auch schon vorbei, und wie er so dahinsaust, bekommt man ein wenig Bammel. Können diese Schaufeln aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff, die bei ihm die Unterschenkel ersetzen, nicht doch unter der Belastung brechen? Außerdem regnet es in Strömen auf den Sportplatz des norditalienischen Örtchens Gemona herab, wo sich der 25-Jährige in den vergangenen Wochen auf Olympia vorbereitet hat. Was, wenn er in einer Pfütze ausrutscht?
Fragen, über die der Südafrikaner, der bei Johannesburg aufwuchs, später im "Gala" -Gespräch lacht: "An so etwas denke ich keine Sekunde." Bereits im Alter von elf Monaten verlor er seine Unterschenkel. Weil die nicht richtig ausgebildet waren, entschlossen sich seine Eltern schweren Herzens zur Amputation. "Meine Behinderung habe ich nie als solche empfunden, meine Familie ist damit ganz selbstverständlich umgegangen. Meine Mutter hat immer gesagt: Geht nicht gibt's nicht", sagt Pistorius und erzählt von waghalsigen Streichen mit seinem älteren Bruder ("Mein Vorbild. Ich habe alles nachgemacht"), wie er sich in den Sport stürzte ("Wir sind eine Familie von Fitnessfanatikern") und schließlich 2004 sein Lauftalent entdeckte.
Heute ist Ossi, wie er von Fans und Freunden genannt wird, der "Blade Runner". Einer der erfolgreichsten Paralympics-Athleten der Welt. Medaillen, Rekorde, Werbeverträge: Dies alles hat sich der Mann mit dem Sunnyboy-Grinsen erlaufen. Am 4. August geht im Londoner Olympiastadion einer seiner größten Träume in Erfüllung. Pistorius wird beim 400-Meter-Lauf starten und damit der erste Mann ohne Beine sein, der bei den Spielen antritt. Der Weg dahin war beschwerlich. Viele Jahre kämpfte Pistorius dafür, sich auch mit nicht behinderten Athleten messen zu können. Das Problem: Seine Prothesen galten als "unerlaubtes Hilfsmittel". Schließlich zog er vor das internationale Sportgericht und bekam 2008 recht. Mit den Komitees und Verbänden sei nun alles gut, meint er, doch die Diskussion werde ihn seine ganze Karriere verfolgen.
Das Leben von Oscar Pistorius: eine faszinierende Mischung aus schweren Prüfungen und Ich-bin-meines-Glückes-Schmied-Momenten. Seine Eltern Henke und Sheila ließen sich scheiden, als er im Teenageralter war. 2002 starb seine Mutter an einer allergischen Reaktion. Ihren Geburts- und Todestag trägt Pistorius seitdem als Tattoo am rechten Oberarm. Auf dem Rücken des Singles und tiefgläubigen Christen prangt darüber hinaus eine Bibelpassage (Korinther 9, 26 "Ich laufe wie ein Läufer, der das Ziel nicht aus den Augen verliert"). Sie erinnert an einen weiteren kritischen Moment. 2009 kostete Pistorius' Draufgängertum ihn beinahe die Karriere, als er mit seinem Speedboot auf dem Vaal-Fluss bei Johannesburg einen Betonklotz rammte. Fazit: zwei Rippen und ein Arm gebrochen, dazu schwere Verletzungen im Gesicht. Seine linke Wange ist seither taub. "Ich habe dumme Sachen gemacht. Das ist vorbei", sagt Pistorius. Er sei zum "fokussierten Athleten" gereift. Wie ist seine Gefühlslage vor Olympia? Bei dieser Frage lacht Pistorius nicht. "Der Druck ist groß, weil ich selber von mir so viel erwarte. Ich möchte einfach gut sein." Geht nicht gibt’s nicht ... Hauke Herffs