Ein strahlend schöner Wintertag in Aachen. Georg Paul Bongartz wartet am Bahnhof, eine große, elegante Erscheinung. Wir wollen unser Interview im privaten Ambiente führen, im Haus der Familie: Dort ist auch Stargeiger David Garrett aufgewachsen, das mittlere Kind von Geigenauktionator und -lehrer Bongartz und seiner Frau, der amerikanischen Balletttänzerin Dove-Marie Garrett.
Die Fahrt führt einen Hügel hinauf an den Stadtrand, zu einer weißen Villa. Hinter der kleinen Diele liegt das Arbeitszimmer. Hier stapeln sich die Papiere zur jüngst abgeschlossenen Auktion. An den Wänden Fotos von David mit Yehudi Menuhin, mit Angela Merkel, Hannelore Kraft, Richard von Weizsäcker. An den Türen Konzertplakate. Der Blick schweift hinaus über die Terrasse und den abgedeckten Pool, in dem David mit seinen beiden Geschwistern früher getobt hat, dann weiter zu einem Stausee. Dahinter Wiesen und Wälder - ein Idyll. Wir setzen uns vor ein Regal, das bis zur Decke reicht. Hier lagern die Geigen für die nächste Auktion.
David ist heute nur noch selten in diesem Haus.
Herr Bongartz, Ihr Sohn sagt, er habe seine Kindheit in einem goldenen Käfig verbracht. Wie geht es Ihnen mit dieser Aussage?
Wenn ich "Gold" höre, geht es mir gut damit. (lacht) Wenn ich "Käfig" höre, ist das natürlich Blödsinn. Im Gegenteil: Er war ja aus dem Käfig, hier aus der Kleinstadt, herausgekommen, hat schon in früher Jugend Konzerte in Los Angeles, Tokio und Chicago, Paris und der Schweiz gegeben. Also, von Käfig kann da weniger die Rede sein.
David sagt auch, er habe als Kind keinen Kontakt mit Gleichaltrigen gehabt, er sei von Privatlehrern unterrichtet worden …
Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das so behauptet hat. So eine Extrawurst wäre vom Kultusministerium ja auch nie erlaubt worden. Er war im Kindergarten, der Grundschule, dann auf dem Gymnasium. Er musste natürlich den Unterricht, den er durch Konzerte versäumt hatte, mit Privatlehrern aufholen.
Wann haben Sie gemerkt, dass er musikalisch begabt ist?
Mein älterer Sohn Alexander hat mit etwa sechs Jahren angefangen, Geige zu spielen. Wenn ich ihn unterrichtet habe, fiel David immer unangenehm auf, weil er Alexander die Geige aus der Hand riss. Irgendwann fiel die Geige sogar zu Boden und wurde beschädigt. Da haben wir uns gedacht: Der kleine Kerl gibt erst Ruhe, wenn er selbst eine Geige hat. Es muss um seinen fünften Geburtstag herum gewesen sein. Ich habe dann schnell festgestellt, dass er einen unheimlichen Biss hat. Und er hatte auch die Finger, die für den Ton förderlich sind. Das waren damals so Wurschtelfinger, wie man in Wien sagt.
Ein Instrument zu lernen, heißt: Üben! Wie viel war es bei David - vier, fünf Stunden täglich?
Nein, nein, nein! Das möchte ich mal sehen, wenn Sie ein Kind haben mit fünf Jahren, das Sie vier Stunden am Tag unterrichten wollen. Wie soll das denn gehen?
Wobei David sogar sagt, er musste sechs Stunden am Tag üben …
"Müssen" schon mal gar nicht. Das bestreite ich energisch, und Zeugin ist seine Lehrerin Ida Haendel. Wenn David bei ihr in Miami eineinhalb Stunden Unterricht hatte, haben wir ihm danach gesagt: Jetzt geh mal schön im Ozean schwimmen! Und wenn er sagte, nein, er muss das Stück erst weiter erarbeiten, sind wir fast böse mit ihm geworden.
Wunderkinder brauchen also keinen Drill?
David ist eine wahnsinnige Begabung, David war ein Wunderkind, das steht für mich mittlerweile außer Frage - und gerade mit diesen Kindern muss man besonders vorsichtig umgehen. Wissen Sie, wie viele Wunderkinder kaputt gemacht worden sind durch falsches Üben, durch falschen Ehrgeiz? David ist nie überfordert worden, der ist psychisch total in Ordnung. Und das war von Anfang an meine Maxime.
In einem Interview sagte er mal, seiner Meinung nach muss hinter jedem Genie ein Elternteil stehen, der Druck macht.
Da muss ich widersprechen. Natürlich muss Disziplin da sein, ob es nun die Eltern von Usain Bolt, Boris Becker, Steffi Graf oder Wolfgang Amadeus Mozart sind oder waren, man muss als Elternteil das Talent erkennen. Aber wenn das Talent nicht da ist, kann man 24 Stunden am Tag arbeiten und hat dann nur einen Scherbenhaufen, ein kaputtes Kind. Ein Genie braucht die Möglichkeit, sein Talent zu entfalten. Ich behaupte sogar: Wer einem Genie Druck macht, gefährdet es eher, als dass er es fördert.
Als David mit 18 nach New York ging, waren Sie und Ihre Frau dagegen.
Ja, wir waren nicht begeistert davon, haben es aber nicht verhindern können. Wir wussten damals nicht, dass wir ihm diese totale Souveränität zutrauen können. Im Nachhinein ist klar: Er hat es genau richtig gemacht.
Würden Sie denn alles wieder so machen?
Jein. Wenn ich Davids Erfolg sehe und wie gut es ihm heute geht, muss ich sagen: Ja! Es hat aber auch Opfer gekostet. (denkt nach) Trotzdem würde ich die noch mal in Kauf nehmen.