Seine innere Anspannung löst sich in der zwölften Spielminute. Tor! 1:0 für Deutschland! Müller macht den Führungstreffer gegen Portugal. David Odonkor, der gemeinsam mit "Gala" das erste Spiel der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2014 verfolgt, reißt die Arme hoch. Zum ersten Mal an diesem Abend huscht ihm ein Lächeln übers Gesicht. Vor dem Startpfiff war er noch skeptisch: Die Portugiesen besiegen? Keine leichte Aufgabe, so Odonkors Prognose. Doch spätestens nach Hummels Kopfballtor zum 2:0 in der 32. Minute sind seine Zweifel verflogen.
2006 war David Odonkor selbst WM-Nationalspieler. Er bereitete das wichtige 1:0 beim Sieg gegen Polen vor. Unvergessen: seine Sprints an der rechten Außenbahn, mitdenen er in die Herzen der Fans raste. Odonkor war ein gefeierter Held und Teil des deutschen Fußball-Sommermärchens. Acht Jahre später ist er Co-Trainer beim Viertligisten SC Verl und verfolgt in Steinhagen nahe Bielefeld die WM am heimischen Fernseher. Hochkonzentriert und leidenschaftlich. Immer wieder kommentiert er lautstark Aktionen einzelner Spieler.
Was empfindet der 30-Jährige, wenn er die deutsche Mannschaft heute kicken sieht? Für einen Moment geht sein Blick ins Leere. "Dann denke ich", antwortet er mit leiser und nachdenklicher Stimme, "dass ich, hätte mir mein Knie nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht, vielleicht auch heute in Brasilien auf dem Rasen hätte stehen können. Natürlich wäre ich am liebsten wieder mit dabei."
Nach der WM 2006 wechselte er von Dortmund nach Spanien zu Betis Sevilla. Eine internationale Karriere winkte. Dann aber spielte ihm das Schicksal übel mit: Im November 2006 erlitt seine Frau eine Fehlgeburt, und Odonkor musste fast zeitgleich zum ersten Mal am Knie operiert werden. Immer wieder fiel er verletzungsbedingt aus. Vier weitere Eingriffe folgten, der letzte im Jahr 2010 hatte fatale Konsequenzen. Beim Gespräch mit "Gala" in der Halbzeitpause - Müller hat kurz zuvor das 3:0 erzielt - erinnert sich Odonkor: "Wegen einer schweren Infektion wurde mir fast das Bein amputiert. Das war die bisher schlimmste Zeit meines Lebens." Seine damals erst einjährige Tochter Adriana sah er in sechs Wochen nur einmal, weil sie nicht ins Krankenhaus durfte. Er konnte sein Bein nicht bewegen, nicht aufstehen, war völlig hilflos. Seine Frau musste ihn rund um die Uhr pflegen. "Suzan hat mich gewaschen, versorgt und mir ganz viel Kraft gegeben. Unsere Liebe ist in dieser Zeit noch mehr gewachsen." Bis heute besteht zwischen Odonkor und seiner Frau eine tiefe Verbindung, die an diesem Abend in vielen Momenten deutlich spürbar ist. Auch Adriana, die sich während der Partie konzentriert einem Smartphone-Spiel widmet, wird von Mama und Papa mit Kuscheleinheiten verwöhnt.
David Odonkors Fußballerlaufbahn endete weniger kuschelig. Zwar hatte er seine Schäfchen finanziell früh im Trockenen. Doch nach Sevilla kamen nur noch Aachen und ein ukrainischer Krisenklub. 2013 hing er seine Karriere an den Nagel. Mit nur 29 Jahren. "Ein Alter, in dem es natürlich viel zu früh ist, um aufzuhören. Aber für meine Gesundheit war dieser Schritt das Beste. Ich wollte nicht bereits als junger Mann ein künstliches Knie haben." Dank eines Spezialisten kann er heute sogar wieder gemäßigt joggen.
Warum muss das alles ausgerechnet mir passieren? Wieso bin ich heute kein Nationalspieler, meine Ex-Kollegen Poldi, Schweini, Lahm dagegen schon? Fragen wie diese stellt sich Odonkor nicht mehr. "Das würde mich auf Dauer kaputtmachen."
Stattdessen soll das gute Gefühl dominieren, dass er ein Teil des deutschen Sommermärchens war. An so manche Episode am Rande der WM 2006 erinnert sich David Odonkor bis heute mit einem Lächeln - zum Beispiel an seine wilden Zweikämpfe mit Gerald Asamoah im Pool des Mannschaftsquartiers. "Wir hatten so viel Spaß und haben viel gelacht. Es war eine fantastische Zeit!" Zu einigen Spielern wie Lukas Podolski, Christoph Metzelder und Asamoah habe er bis heute Kontakt.
Tooor! 78. Minute. Erneut Müller. Das Match geht in die Endphase. Höchste Zeit, um David Odonkor, der 2002 für den Fußball seine Ausbildung zum Postboten abbrach, nach seinen Zukunftsplänen zu fragen. Er habe jetzt die B-Lizenz als Trainer und wolle sich nun die A-Lizenz erarbeiten. Coacht er bald in der Bundesliga? "Früher habe ich versucht, mein Leben komplett durchzuplanen. Aber das bringt nichts. Du weißt nie, was am Ende tatsächlich passiert. Ich denke lieber von Woche zu Woche und mache Schritt für Schritt."
An seiner positiven Grundhaltung und der Stehaufmännchen-Mentalität hält David Odonkor bis heute fest: "Ich hab gelernt, alles im Leben so anzunehmen, wie es kommt - auch wenn es manchmal verdammt hart ist."