Sie war das freche Mädchen vom Musikfernsehsender Viva und wurde mit dem Skandalroman "Feuchtgebiete" zur weltweit beachteten Bestseller-Autorin und Feministin.
Charlotte Roche: Über ihren Traum vom grünen Glück
Jetzt kommt Charlotte Roche, 40, einmalig zurück ins Fernsehen. In dem NDR-Talkshow-Format "Die Geschichte eines Abends" (Ausstrahlung im TV: 30. November, 0.15 Uhr; per Online-Stream ab 18 Uhr) lädt sie als Gastgeberin vier Stars in eine Waldhütte ein. Dort sollen sie über das Leben sinnieren. "Das war eine tolle Erfahrung, weil die prominenten Gäste nicht einen Film oder ein Album zu bewerben haben. Sie dürfen nur über sich sprechen. Was wahnsinnig mutig ist", sagt sie im Gespräch mit GALA. Dass im Wald gedreht wurde, lag für Charlotte Roche nah. "Weil ich die Stadt inzwischen hasse", wie sie sagt. Mit ihrem Mann, dem Fernsehproduzenten Martin Keß, ist sie seit elf Jahren verheiratet; er brachte einen Sohn mit in die Ehe, sie ihre heute 16-jährige Tochter. Gemeinsam zogen sie vor Jahren aufs Land. Dort lebt die Familie ihren Traum vom grünen Glück, der nur dann zur Zerreißprobe wird, wenn bei Mama Charlotte mal wieder kein Fisch anbeißen will. Denn ungeduldig ist sie bis heute.
GALA: Frau Roche, warum sind Sie eigentlich aufs Land gezogen?
Charlotte Roche: Ich bin mit meiner Familie oft am Wochenende in gemietete Wochenendhäuser aufs Land gefahren – wir haben ja Kinder, unseren Mischlingshund Puki, und man selbst wird ja auch immer älter und will mehr Vögel beobachten. (lacht) Das hatte aber den Effekt, dass die Familie nach den Wochenenden nicht mehr zurück in die Stadt wollte. Wir wurden bei den Rückfahrten kollektiv depressiv.
GALA: Warum mögen Sie die Stadt nicht mehr?
Roche: Die ganze Werbung, überall blinkt etwas, es stinkt nach Abgasen. Alle streiten sich: Die Radfahrer mit den Autofahrern, die Hundebesitzer mit den Eltern von Kindern, und umgekehrt genauso. Auf dem Land ist das anders. Da kennt man sich, und man weiß voneinander, dass der eine mal mit dem Auto und mal mit dem Fahrrad fährt. Es wäre dort also sehr dumm, jemanden als Kack-Rad- oder Autofahrer zu beschimpfen.
GALA: Wo leben Sie?
Roche: Unser Haus liegt eine Stunde von Köln entfernt. Es ist das letzte Haus im Dorf . – kurz vor einem Naturschutzgebiet. Wir sehen also keine Menschenseele – es sei denn, wir wollen es. Aber es gibt einen Supermarkt. Es ist noch immer die Zivilisation. (lacht)
GALA: Beschreiben Sie uns doch mal das Dorfleben.
Roche: Wenn man draußen ist, wird man von den Nachbarn gegrüßt. Alle haben Hunde, es gibt für jeden genug Platz. Ich hatte nach zwei Wochen auf dem Land mehr menschlichen Kontakt als nach zehn Jahren in Köln. Auf dem Land merken die Nachbarn auch sofort, wenn jemand tot in seinem Haus liegt – nicht wie in der Stadt erst nach mehreren Wochen, weil die Leiche anfängt zu stinken.
GALA: Bauen Sie selbst Obst und Gemüse an?
Roche: Ich habe eine Zeit lang versucht, Möhren und Kürbisse anzubauen. Aber ich bin zu ungeduldig und irgendwann aggressiv geworden. Erst habe ich die kleinen Pflanzen im Haus großgezogen. Als ich sie in den Garten gesetzt habe, wurden sie in einer Nacht von Schnecken gefressen, weil ich keinen Salzrand gelegt hatte. Aber ich habe von einem Freund – wir nennen ihn den Pilz-Professor – gelernt, Pilze zu sammeln, die wir auch essen.
GALA: Und Sie haben einen Angelschein?
Roche: Richtig. Aber auch da ist die Ungeduld mein größter Feind. Viele angeln ja, um lange vom Partner weg zu sein. Die meisten wollen Bier trinken, angeln und ihre Ruhe haben. Ich will aber wirklich einen Fisch fangen. Und wenn ich das zwei Tage nacheinander versuche und kein Fisch anbeißen will, raste ich vor Wut aus.
GALA: Ihr größter Fang bisher?
Roche: Eine 38 Zentimeter lange Forelle.
GALA: Angeln Sie zusammen mit Ihrem Mann?
Roche: Wir sind große Rollenvertauscher. Ich mache meist Dinge, die als eher männlich betrachtet werden – zum Beispiel fahre ich Autorennen mit Anrempeln. Mein Mann ist bei uns für die Pâtisserie zuständig. Er ist ein Top-Bäcker! Seine dünnen Tartes mit Obst sind in der ganzen Nachbarschaft bekannt. Das macht mich stolz: Männer, die – jetzt mal altmodisch ausgedrückt – Frauendinge tun.
GALA: Stimmt es, dass Sie Tiere durch ihre Häufchen deuten können?
Roche: Ich habe ein Losungsbuch, aber ich vertue mich manchmal, weil ich in der Natur immer so aufgeregt bin. Wenn ich durch den Wald gehe, was ja das Reich der Tiere ist, und es da plötzlich knackt, kriege ich schon mal Schiss. Es könnte ja ein Hirsch kommen. Und dann habe ich mal einen riesigen Losungshaufen gefunden an einer Stelle, wo ein Tier auch getrunken haben muss. Ich war der festen Überzeugung: Das war ein Braunbär. Ich habe deswegen alle Leute im Dorf verrückt gemacht: "Wir werden von einem Bären angegriffen." Ein Jäger hat mir dann erklärt, dass es ein großes Wildschwein war. (lacht)
GALA: Warum wollen Sie so etwas wissen?
Roche: Wenn man einen Haufen im eigenen Garten findet und in der Losung Fell ist, weiß man doch schon mal, dass es ein Tier gewesen sein muss, das andere Tiere frisst. Ich will also wissen, was für ein Viech da um mein Haus läuft.
GALA: Ist das Leben auf dem Land für Sie eine Art Entzug?
Roche: Leider nicht, was die Technik betrifft. Seitdem ich bei Instagram bin, bin ich hooked. Das hat so Suchtpotenzial. Instagram ist gefährlich für mich. In der Familie wird regelmäßig gesagt: "Mama, tu das Handy weg." Und ich denke mir: "Scheiße, eigentlich sollten das nicht meine Kinder zu mir sagen, sondern ich zu ihnen." Was auf dem Land aber definitiv weniger geworden ist, ist der Konsum. Man bekommt nicht dauernd Kaufimpulse. Heute habe ich das Gefühl, ich brauche nicht ständig etwas Neues.
GALA: Sind Sie ruhiger geworden?
Roche: Total. Früher war ich viel lauter und krasser, weil ich vor vielen Dingen weggelaufen bin. Trauer, die ich nicht verarbeitet hatte und versuchte zu übertünchen. Ich bin ein großer Fan von Therapie geworden, und dafür mache ich auch gern Werbung. Erst so lernt man, abschließen zu können.
GALA: Machen Sie noch Therapie?
Roche: Es ist jetzt 17 Jahre her, dass meine Brüder bei dem Autounfall gestorben sind. Ich konnte das durch Therapie verarbeiten. Heute brauche ich keine Hilfe mehr. Irgendwann kann man glücklicherweise den Therapeuten auch nicht mehr sehen. (lacht) Generell konnte ich so sehr viele meiner Ängste bearbeiten. Ich fühle mich mit 40 heute fitter und freier als mit 20. Ich bin nicht mehr geplagt von schlimmen Sachen.
GALA: Ist Älterwerden ein Thema?
Roche: Ich beschäftige mich massiv und bewusst damit. Aber positiv. Ich bin stolz, dass ich noch lebe. Ich habe früher einen Lebensstil geführt, bei dem ich oft hätte sterben können. Ich habe richtig gefährliche Sachen gemacht – ich habe Drogen genommen, oder ich bin in den unmöglichsten Zuständen Auto gefahren. Mir war alles egal. Ich habe mich bewusst weggeworfen – und das sehr oft. Und heute, wo sich die Wolken alle klären, bin ich so froh, da zu sein und älter werden zu dürfen.
GALA: Und wie stehen Sie zu Falten und Schönheitsoperationen?
Roche: Was das körperliche Älterwerden angeht, müssten meine Oma und meine Mutter meine größten Vorbilder sein. Sind sie aber nicht. Sie färben ihre Haare, und das finde ich nicht gut. Wenn Männer älter werden, dann sind sie edel wie gute Weine. Graue Haare sind bei ihnen sexy. Sobald bei Frauen die Fruchtbarkeit aussetzt, heißt es: "Die kannst du wegwerfen. Die ist unattraktiv." Und ich finde es schade, dass Frauen es als Schande empfinden, älter zu werden. Ich will mein Altern auf gar keinen Fall aufhalten. Ich akzeptiere es mit allem, was dazugehört: Haare, Gesicht, Körper. Wenn ich diesen typischen Tabakbeutelmund bekomme, will ich auf keinen Fall damit anfangen, den aufspritzen zu lassen. Am Ende bist du ein kaputt operierter Mensch. Ich mag auch meine grauen Haare. Ich habe sogar das Gefühl, wegen meiner grauen Haare respektvoller behandelt zu werden. (lacht) Ich glaube, wenn man akzeptiert, dass man so aussieht, wie man alt ist, dann kann man gut Tschüss sagen, wenn man stirbt.
GALA: Ihre Tochter ist im Teenageralter. Findet sie ihre Mama eigentlich cool?
Roche:(lacht laut los) Das würde ich gern mit "Ja" beantworten, aber das ist nicht so. Grundsätzlich würde ich sagen, dass ich eine liberale und gute Mutter bin. Ich erziehe meine Tochter stark und frei. Bei uns fällt kein Satz wie "So gehst du nicht auf die Straße". Meine Tochter darf anziehen, was sie will. Je selbstbewusster, desto besser. "Geh raus und zeig ihnen, wo der Hammer hängt." Aber ich bin für sie, gerade in ihrem Alter jetzt, extrem peinlich. Ich glaube aber, das muss auch so sein.
GALA: Haben Sie ein Beispiel?
Roche: Wenn ich meine Tochter frage: "Guck mal, kann ich das so bei Instagram posten", antwortet sie: "Was soll ich dazu jetzt sagen? Mach, was du willst."
GALA: Sie haben vor geraumer Zeit den Kontakt zu Ihren Eltern abgebrochen. Warum?
Roche: Wir sind getrennte Leute. Ich will nicht sagen, dass alle ihre Eltern abschießen sollen. Wenn die Eltern gut für einen sind, kann man sie gerne behalten. (grinst) Meine Eltern waren in meiner Kindheit nicht gut für mich. Ich bin ein vielmaliges Scheidungskind. Bis ich 15 war, bin ich 14-mal umgezogen. Und das lag nur am Lebensstil meiner Eltern. 68er-Generation, Selbstverwirklichung... Ich bin sehr gegen Selbstverwirklichung in der Zeit, in der man Kinder hat. Man kann das gern davor oder danach machen. Aber in der Zeit, in der man Kinder hat, kann man sich mal kurz am Riemen reißen und nicht jedes Jahr einen neuen Stiefvater anschleppen. Das ist wirklich verstörend für mich gewesen. Und ich habe nach jahrelanger Therapie festgestellt, dass es besser für mich ist, ohne Eltern zu leben.
GALA: War das nicht sehr hart?
Roche: Es war natürlich sehr, sehr schmerzhaft, sich von lebenden Eltern zu trennen. Die ersten Jahre waren schwer: die ganzen Feiertage, Geburtstage, Weihnachten... Vorher hat man so eine große Familie gehabt, plötzlich nur noch die eigene kleine. Aber jetzt ist der Schmerz weg, das Vermissen ist weg, und ich bin tatsächlich frei. Ich fühle mich viel erwachsener, weil ich keine Eltern mehr habe.
GALA: Was ist für Sie Heimat?
Roche: Das ist ein gefährlicher Begriff, weil viele ihn benutzen, um Menschen auszuschließen. Ich finde, Heimat sollte andere einladen. Früher habe ich immer gesagt, ich bin Engländerin, die in Deutschland lebt. Das war mir wichtig. Heute ist das nicht mehr so. Ich fühle mich sehr deutsch. Voriges Jahr bin ich sogar Deutsche geworden. Ich habe jetzt einen deutschen Pass, auch wegen des Brexits. Doch ich würde sagen: Home is where my heart is. Und das ist mein Mann. Mein Mann ist meine Heimat.
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