Sie werden in Zukunft noch seltener vorkommen, diese Tage, an denen Angelique Kerber, 28, mit ihrer Schwester Jessica, 24, durch ihre Wahlheimat Kiel zieht, in der Lieblings-Crêperie einfach mal auf die Kalorien pfeift und sich anschließend in Jessicas Kosmetiksalon "Schönsinn" nach allen Regeln der Kunst verwöhnen lässt. "So was passiert meistens spontan", verrät Jessica GALA lachend am Telefon. "Ich muss dann eine Nachtschicht einlegen."
Angelique Kerber hat am Wochenende in Melbourne Sportgeschichte geschrieben: 17 Jahre nach dem letzten Grand-Slam-Erfolg von Steffi Graf gewann erstmals wieder eine Deutsche eines der vier großen, wichtigen Tennisturniere. In drei Sätzen besiegte Kerber bei den Australian Open Titelverteidigerin Serena Williams, die als quasi unschlagbar galt. "Angie" begeisterte mit ihrem mutigen Spiel die Zuschauer im Stadion und an den Fernsehern rund um die Welt. Und sie entfachte bei den Deutschen über Nacht eine Tennis-Euphorie, wie man sie hier seit dem Rücktritt von Steffi Graf und Boris Becker 1999 nicht mehr kannte.
"Sie hat den Sieg einfach megamäßig verdient."
Wie sie den Überraschungssieg geschafft hat? "Ich bin ganz bei mir geblieben, war zwar nervös, aber habe auch gemerkt, dass ich eine Chance habe, wenn ich meinen Plan verfolge", so Angelique Kerber zu GALA. Ihre Schwester weiß, wie ehrgeizig der neue Stern am Tennishimmel auf den großen Traum hingearbeitet hat. "Sie hat diesen Sieg einfach megamäßig verdient. Sie hat all die Jahre so viel für ihre Karriere geleistet, hat viel dafür aufgegeben und hinten angestellt", sagt Jessica Kerber. Angelique selbst erinnert sich nur zu gut an die Jahre voller Selbstzweifel. "Es gab Zeiten, da wollte ich sogar ganz mit dem Tennis aufhören", gesteht sie GALA. "Aber seit einigen Jahren war ich mir immer sicher, dass ich so einen Titel in mir trage. Dass es jetzt geklappt hat, ist einfach nur Wahnsinn."
Nicht aufgeben! Unter diesem Motto hat ihr großes Vorbild Steffi Graf sie bestärkt: Vor dem Finale machte sie ihr per E-Mail Mut. Die beiden kennen sich gut. Im vorigen Sommer hat Angelique acht Tage bei Steffi Graf in Las Vegas trainiert. Offenbar war das der Wendepunkt: "Ich habe dort viel gelernt, Steffi hat meine Zweifel endgültig zerstreut." Vorher kritisierten Tennisexperten gerne, dass Angelique Stresssituationen auf dem Court nicht gewachsen sei. Seitdem sah man sie fokussierter, angriffslustig.
Ihren Triumph verdankt sie aber auch noch anderen
Auf die GALA-Frage nach ihren größten Unterstützern nennt Angelique "meine Familie, mein Team". Die gebürtige Bremerin ist ein absoluter Familienmensch. Am Montag landete sie nach dem Rückflug aus Australien in Frankfurt – und reiste gleich weiter nach Puszczykowo. In dem polnischen Ort nahe Posen warteten ihre Mutter Beata, die sich von Norddeutschland mit dem Auto auf den Weg gemacht hatte, und die Großeltern Maria und Janusz, die Eltern von Angeliques Vater Slawomir.
Zu ihnen hat die Enkelin ein inniges Verhältnis. Auch Oma und Opa haben immer an Angelique geglaubt: Das Tenniscenter, das sie betreiben, trägt den Namen "Angie". Als Kinder verbrachten die Schwestern Angelique und Jessica dort regelmäßig ihre Ferien. Es war eine "sehr gute und behütete Kindheit", erzählt Jessica. Ihren Erfolg in Australien feierte Angelique jetzt privat mit der Familie. Dienstag ging es dann schon weiter nach Leipzig: Am Wochenende spielen die deutschen Tennisdamen im Fed Cup gegen die Schweiz.
Angeliques Vater, der seine Tochter früher trainiert hat, war bei dem Familienfest in Polen nicht dabei. Das Verhältnis zu ihm ist schwierig, seit sich die Eltern vor einigen Jahren getrennt haben. Ein Vertrauter der Familie meint, es sei nötig gewesen, dass nun "eine fremde Person" sportlich mit Angelique zusammenarbeite, jemand, der ihr mal die Meinung sagt. Auch Jessica weiß, dass Angelique eigensinnig sein kann: "Meine Schwester hat ihren eigenen Kopf und ist sehr ehrgeizig. Man muss geduldig mit ihr sein." Trainer Torben Beltz und Physiotherapeut Simon Iden haben offenbar das richtige Gespür im Umgang mit der Tennisspielerin
Für einen Freund hat Angelique keine Zeit.
Viel zu unstet erscheint ihr Leben, das sich zwischen Turnieren in Paris, Rom und Dubai und kleinen Auszeiten in Kiel, Posen oder auch auf den Malediven bewegt. „"Sie ist Single, war nie fest mit jemandem zusammen", sagt Jessica und betont, sie würde sich freuen, wenn ihre Schwester den richtigen Mann finden würde. "Im Moment hat sie dafür einfach noch zu wenig Zeit, sie ist ja ständig unterwegs."
"Jetzt ist alles anders!" So brachte Angelique Kerber ihr neues Leben auf den Punkt, als sie am Montag um 6.18 Uhr durch die Tür des Frankfurter Ankunft-Terminals trat. Dass sie jetzt nicht nur eingefleischten Tennisfans bekannt ist, hatte sie zuvor im Flieger bemerkt: Die Passagiere applaudierten. Abheben wird der neue Sportstar, der allein in Melbourne 2,4 Millionen Dollar Siegprämie kassierte, trotzdem nicht, da ist sich die Verwandtschaft einig. Als bodenständig und geerdet beschreiben sie die junge Frau, die Omas Kohlrouladen und Piroggen lieber mag als Sushi oder Austern und deren größter Luxus ihr Schuhtick ist – sie besitzt rund 80 Paar. Außerdem hat sich Angelique noch lange nicht alle Träume erfüllt. Sie will bei Olympia dabei sein und bei der RTL-Show "Let’s Dance". Und wenn sie Steffi Graf weiter nacheifern will, hat die neue Nr. zwei der Weltrangliste eh noch viel zu tun: Die Gräfin brachte es auf 22 Grand-Slam-Siege.