Für unser Gespräch ist John Jürgens, 55, extra von München nach Mallorca gekommen: Seine Schwester Jenny, 52, lebt in Sóller im Nordwesten der Insel. Es ist 16.30 Uhr, das Flugzeug ist gerade gelandet, und die beiden freuen sich auf den gemeinsamen Abend. Bereits am nächsten Morgen wird John wieder nach Hause zurückkehren, zu Ehefrau Hayah und den drei Kindern.
Emotionale Erinnerungen an ihren Vater
Am Holztisch auf der schattigen Terrasse schwelgen die Geschwister in Erinnerungen. Was der eine beginnt, führt der andere oft fort. Lachend, sinnierend und hin und wieder mit verdächtig glänzenden Augen. Unterbrochen werden sie nur vom Knattern des Motorrads, als Jennys Ehemann David Carreras nach Hause kommt.
GALA: Hat sich das Verhältnis zwischen Ihnen seit dem Tod Ihres Vaters verändert?
Jenny: Wir waren immer sehr eng, wir haben ja auch ein paar Jahre in München zusammen gewohnt. Aber nach dem Tod war es so, dass wir fast täglich mit einander in Kontakt standen, weil so viele Themen besprochen werden mussten. Darüber hinaus hat es natürlich auch sehr verbunden, den Schmerz zu teilen, die Situation nach Udos Tod gemeinsam durchzustehen.
John, sind Sie jetzt das Familienoberhaupt?
John: Aus meiner Sicht ist er das Familienoberhaupt geblieben. Aber ich bin es jetzt quasi. Wie man in "Game Of Thrones" sagen würde: eine Hand, die er führt.
Jenny: Ein schönes Bild.
John: Eigentlich machen wir als Familie alles gemeinsam. Ich würde mir nicht anmaßen, Udos Nachfolger zu sein.
Jenny: Wir haben nicht die Ausstrahlung wie der Papa. Wenn der irgendwo ankam, wurden alle zwangsläufig in den Sitz gedrückt.
John: Wenn ich die Begeisterung der Menschen für unseren Vater erlebe, ihre Emotionen, dann spüre ich ihre Verehrung und Achtung ihm gegenüber, die ich stellvertretend annehme.
Ist es auch eine Last?
Jenny: Als Last würde ich es jetzt grundsätzlich nicht mehr empfinden. Natürlich war unser Leben extrem turbulent in den vergangenen fast fünf Jahren. Es gibt auch immer noch die ein oder andere Turbulenz, die wir zu bewältigen haben. Deshalb konnten wir uns leider nicht so ganz auf das konzentrieren, was wir eigentlich machen wollten.
John: Unseren Vater feiern.
Jenny: Genau! Den Udo feiern und einen Ort schaffen, an dem man an ihn denken kann, vielleicht ein Museum. Ich glaube, dass es im Sinne aller ist, für die Fans und auch für den Papa, sein Werk lebendig zu halten und es zu schützen. Ich könnte mir ein Haus in Wien vorstellen. Ich glaube, das wäre ein Magnet für viele Menschen.
"Die Zeit mit ihm war sehr intensiv und herrlich albern"
Wie erinnern Sie sich heute an Ihren Vater?
Jenny: Das sind eher Stimmungen. Wenn der Papa zu Hause war, war es immer unglaublich witzig, wir haben viel gelacht. Mit ihm konnte man sehr positiv und lustig ins Leben schauen.
Wie würden Sie ihn als Vater beschreiben?
John: Dadurch, dass er so wenig da war, waren die Zeiten mit ihm sehr intensiv und herrlich albern. Auch mit seinem Bruder Manfred. Wenn die beiden zusammen waren, haben wir nur noch gelacht, es war absolut chaotisch.
Welche Zeiten waren das?
John: Unsere Kindheit in Zürich und Kitzbühel, vor allem unsere Ski Ausflüge - die aus seiner Sicht keine waren. Er war der Typ "rein in die Hütte", und am Schluss musste man irgendwie wieder den Abhang runterkommen. Er durfte sich ja auch nicht verletzen. Weil wir diese Momente so intensiv erlebt haben, wirkten sie dann doch größer - er war ja zwischendurch manchmal zehn Monate lang nicht zu Hause.
Wann wurde Ihnen klar, dass er ein Star ist?
Jenny: Wenn überhaupt, war das ein schleichender Prozess. Das war lange Zeit gar nicht so wichtig.
John: Die ersten zehn Jahre meines Lebens war der Papa der Papa und die Mama die Mama. Als wir von Kitzbühel aus mal zur Omi nach Kärnten gefahren sind, gab es aber so einen Moment. Mir war schlecht, wir sind raus auf die Autobahnraststätte. Da kamen all die Leute und wollten Autogramme, sogar von mir. Das war ein einschneidendes Erlebnis.
Jenny: Bei mir ging das im Internat los. Ich war zehn. In den ersten zwei Wochen waren alle Mitschüler crazy, aber dann ist das sehr stark in eine andere Stimmung umgeschlagen.
John: Ja, da war man halt das Promi-Kind oder der Schlagerfuzzi-Sohn. Andere haben Übergewicht oder Untergewicht, eine große Nase oder eine schwarze - ich finde Mobbing generell total daneben. Ich hab das alles ganz gut überstanden und weggesteckt, weil in der Familie immer viel Liebe war.
Jenny: Wenn es ans Eingemachte ging, stand Papa wie 'ne Eins.
John: Absolut.
Jenny: Wenn man wirklich Liebeskummer oder Probleme mit den Lehrern hatte, war der Papa ganz schnell auf dem Parkplatz vor dem Internat.
John: Er war ja auch jemand mit einer festen Meinung und Aussage, der keine Angst hatte, klare Kante zu zeigen. Viele Leute haben das honoriert. Deswegen hatte er auch sehr enge Beziehungen zu interessanten Politikern wie Kreisky oder Genscher. Die mochten ihn alle sehr. Er hatte tolle Ideen und Gedanken, auch politische.
Dankbar für ein tolles Leben
Haben Sie ihn als Kinder so richtig bewusst vermisst?
Jenny: Eigentlich nicht, weil die Mama alles abgedeckt hat.
John: Das wäre Jammern auf hohem Niveau. Wir hatten ein Riesenglück, unser Leben war toll. Wir waren in der Natur in Kitzbühel, sind im Winter Ski gefahren, waren im Sommer nur draußen. Da hat man nicht die ganze Zeit an die Eltern gedacht.
Jenny: Als ich dann Probleme hatte, mein eigenes Leben zu finden, so zwischen 16 und 20, da hätte ich ihn mehr gebraucht. Als John und ich nach München gingen, war er auch finanziell sehr streng, was ich im Nachhinein aber nicht schlecht finde.
Später wurde der Kontakt wieder intensiver?
Jenny: Als ich mit Ende zwanzig dann so richtig auf den Beinen stand, hab ich viele sehr intensive Jahre mit ihm gehabt. Wir sind häufig zusammen verreist. Das war auch seiner engen Freundschaft zu meinem Ex-Mann geschuldet. Der Papa war wahnsinnig gern mit Männern zusammen. Das waren tolle, gesellige Abende mit gutem Essen und tiefen Gesprächen.
Welche besonderen Erinnerungen sind geblieben?
John: Zum Beispiel die Zeit, wenn wir zusammen in unserem Ferienhaus in Portugal waren und er mit den Kindern Ostereier bemalt hat. Das war unheimlich süß. Fotografieren ließ er sich da nicht gern, weil er öffentlich schon so viel fotografiert wurde. Als wir ihm dann ein gerahmtes Bild geschenkt haben, hat er es aber bei sich im Haus aufgestellt. Sehr besonders war auch die Zeit, als er mich in New York besucht hat. Da haben wir Sting in der "Dreigroschenoper" gesehen und Bloody Mary getrunken. Ich bin mit ihm in die Clubs gegangen, und die Türsteher haben mich gefragt, wer der Typ ist, den ich im Schlepptau habe. Das war cool, und der Papa hat es genossen, in meiner Clique mit Freunden aus aller Herren Länder zu sein, alle künstlerisch angehaucht. Er war einfach "John’s Dad".
Jenny: Mit ihm hatte ich die längsten Nächte meines Lebens. Er konnte kein Ende finden.
John: Er war halt ein Nachtmensch, hat zeitversetzt gelebt. Bis morgens um fünf hat er am Klavier gesessen und Songs geschrieben.
Jenny: Er war auch ein großer Genießer. Essen, Trinken, Musik, Menschen, Gespräche, Rotwein... Das Leben zu nehmen, das hat er gemocht.
John: Da hatte er dann auch die Ideen für seine Lieder.
Jenny: Er rief oft mitten in der Nacht an: Ich muss dir was vorspielen, noch nicht ganz fertig, aber hör mal...
Udo Jürgens war Urteil seiner Kinder wichtig
Ihr Urteil war ihm also wichtig.
Jenny: Ja. Er war nervös, wenn wir in seine Konzerte kamen.
John: Weil er ja auch wusste, dass wir eigentlich mehr Soul sind. Er hat mir schon Platten auf höchstem Niveau geschenkt, als ich zehn war. Mein erstes Album war von Led Zeppelin.
Jenny: Ich glaube schon, dass es ihm sehr wichtig war, dass uns seine Musik nicht peinlich ist. Er war ja ein ganz Großer, kam vom Jazz.

Was hat er Ihnen außer der Liebe zur Musik mitgegeben?
Jenny: Wir sind beide sehr positive Menschen. Korrektes Verhalten und Freundlichkeit sind uns wichtig, und Respekt.
John: Pünktlichkeit war immer ein großes Thema. Wenn man um zehn Uhr los wollte, stand er um viertel vor zehn mit den Schlüsseln in der Hand da.
Jenny: Und den Humor haben wir auch von ihm. So ein schwarzer, englischer Humor.
John, sehen Sie schon, was Ihre Kinder davon geerbt haben?
John: Auf jeden Fall die Liebe zur Musik - alle spielen Klavier. Aber auch Themen wie Pünktlichkeit und Toleranz. Mein Sohn ist der junge Udo, die ganze Körpersprache...
Gibt es auch etwas, das Sie anders machen möchten als er?
John: Ja. Ohne meinen Vater kritisieren zu wollen, würde ich gerade beim Thema Frauen manches anders machen. Ich will jetzt nicht so tun, als wäre ich ein Mönch. Aber ich denke, dass man sich im Zaum halten und vernünftig sein kann. Ich habe natürlich das wahnsinnige Glück, eine tolle Frau zu haben, die alle Vorzüge vereint. Wir haben beide Glück gehabt, uns gefunden zu haben. Wahrscheinlich ist es auch einfacher, treu zu sein, wenn man nicht so begehrt ist.
Jenny: Sei froh! Die Frauen haben sich ja im Hotel vor Papas Tür gelegt.
Keine Doppelmoral im Hause Jürgens
Hat Ihre Mutter damals sehr unter der Situation gelitten?
Jenny: Die Mama hat den ganz großen Wunsch gehabt, ihre Familie zu erhalten. Beide Kinder waren gewünscht. Udo war ihre ganz große Liebe. Sie hat ihn kennen gelernt, als er noch kein Star war. Es gab kein Geld, keinen Ruhm. Die beiden haben sich einfach wahnsinnig geliebt. Das ging dann Stück für Stück kaputt. Klar hat unsere Mutter da eine große Traurigkeit davongetragen. Schlussendlich haben sie es aber doch gut hingekriegt. Oder besser: Die Mama hat es besonders gut hingekriegt. Sie ist ja auch nicht 40 Jahre alleine geblieben, das wäre schrecklich gewesen. Sie war eine bildschöne Frau, und sie hatte das Recht, sich neu zu verlieben. Die Krönung war es dann immer, wenn der Papa mit dem Freund von der Mama Bier oder Wein trinken gegangen ist. Für John und mich war das gut, weil alles sehr offen gelebt wurde. Es herrschte keine Doppelmoral.
John: Ja, alle waren lieb. Aber es ist nicht das Leben, das ich für mich wollte.
Hatten Sie je den Eindruck, dass Ihr Vater seine Untreue bereut hat?
Jenny: Absolut.
John: Mich hat er oft angeschaut, wenn wir alle zusammen in Portugal waren, und gesagt: Ich habe das nicht geschafft, ich konnte das nicht. Ich habe dann gesagt, dass alles gut ist, so wie es ist.
Jenny: Wir waren sehr tolerante Kinder, wir haben dem Papa alles verziehen. Wir wollten natürlich auch keinen Ärger.
John: Wir haben sehr früh verstanden, dass er das, was er im Leben geschaffen hat, nicht hätte leisten können, wenn er brav zu Hause gesessen hätte. Das braucht schon ein bisschen Rock'n'Roll. Diese Zerrissenheit, dieser Herzschmerz, aus seinen Liedern - woher sollte das sonst kommen?

"Er war ein Getriebener. Er hat sich von anderen instrumentalisieren lassen"
Sie zeichnen in einer Vox-Dokumentation auch ein Bild von einem eher unglücklichen Mann in seinen späten Jahren.
Jenny: Ich wurde gefragt, ob ich glaube, dass mein Vater glücklich war. Da habe ich mit Nein geantwortet. Das Älterwerden hat ihm zu schaffen gemacht, der Gedanke an das Sterben hat ihn sehr gestresst. Vielleicht hatte er auch eine leichte Anlage zu einer Altersdepression. Ich hätte ihm so gewünscht, dass er auch in dieser Phase noch mehr genießen kann. Er hatte so eine Schwermütigkeit, die ihm ja auch irgendwie gut zu Gesicht stand, er wurde melancholisch und hat vieles hinterfragt. Irgendwann hat zu mir gesagt: "Ich war so ein schlechter Vater." Und er hat sich entschuldigt. Ich habe geantwortet: "Papa, das ist doch totaler Quatsch."
John: Wenn wir mit ihm beim Essen saßen, hat er seine Enkel angeschaut, und plötzlich sind ihm die Tränen in die Augen geschossen. Dass seine beiden Elternteile mit 80 gestorben sind, stand wie eine Wand vor ihm.
Jenny: Ihm wurde alles zu viel, als dann die große TV-Show zum 80. Geburtstag produziert wurde. Ich habe ihm gesagt: "Du bist hier der Star, wenn du das nicht willst, dann mach es doch nicht!" Aber er wollte seine Pflicht erfüllen und die Erwartungen, die alle an ihn hatten, auch die, die viel Geld mit ihm verdienten, nicht enttäuschen.
John: Er war ein Getriebener. Er hat sich von anderen instrumentalisieren lassen. Das Rennpferd läuft...
Jenny: Ich hätte mir gewünscht, dass er sich mehr auf die Familie besinnt, mehr reist, mehr Zeit mit seinen Enkelkindern verbringt, mehr Sehnsucht verspürt. Wenn ich sehe, wie sich der Gesichtsausdruck meines Mannes verändert, wenn er mit seinen beiden Söhnen spricht, wenn ich meinen Bruder mit seinen drei Kindern erlebe - dann weiß ich, was mir und John manchmal gefehlt hat. Der Papa hätte sich weniger abkapseln sollen oder weniger abkapseln lassen und dafür mehr in die Ruhe der Familie eintauchen. Eigentlich hätte er am Ende nur noch sagen sollen: Jetzt ist gut.
Ein letztes Gespräch stand noch aus...
Was ist in ihm vorgegangen?
John: Ich glaube, er wusste, dass das seine letzte Tournee sein wird.
Hat sein plötzlicher Tod Ihre Sicht aufs Leben verändert?
Jenny: Ich habe unglaubliche Angst vor Schicksalsschlägen - allein schon vor möglichen Anrufen mit schlechten Nachrichten. Aber das Positive ist, dass man durch solche traurigen Erlebnisse auch das Bewusstsein für schöne Momente schärft. Man muss das Leben nehmen und den Menschen sagen, dass man sie liebt. Das Leben kann sich jeden Tag radikal verändern. Das ist zwar beängstigend, macht aber auch sehr klar im Kopf.
John: Bei mir und dem Papa stand noch ein Gespräch aus. Er hat gesagt: "Wenn die Tournee vorbei ist." Und genau das ist der Punkt: Man soll nicht warten. Ich bin auch manchmal ein Schieber, aber ich versuche, keiner mehr zu sein.
Jenny: Das hat dich belastet.
John: Daran habe ich schon zu knabbern, ja. Als Sohn hat es mich auch eine Portion Mut gekostet, mich dem Gespräch mit dem Papa zu stellen. Nun ist es nicht mehr dazu gekommen.
Jenny: Wir hatten unheimlich viel Respekt. Wir wollten ja nicht, dass er schlecht drauf ist.
Sie haben aber beide Ihren Frieden geschlossen?
Jenny: Jeder kann sich denken, dass so eine komplexe, autoritäre Persönlichkeit mehrere Facetten hatte. Es war nicht immer einfach. Aber es war sehr oft sehr toll mit ihm.