Es herrscht kreatives Durcheinander in der Stadthalle Gütersloh. Im Saal werden Instrumente gestimmt, eine Asiatin macht im Foyer Atemübungen, im ersten Stock umarmen sich junge Leute und wünschen einander "Good luck". Sie kommen aus Kasachstan, Südkorea oder Portugal, aus Brasilien, Japan oder Deutschland und haben bereits einen der weltweit 22 Vorentscheide hinter sich. Sie sind zwischen 19 und 29 Jahre alt und hoffen auf die ganz große Karriere.
Für drei von ihnen wurde dieser Traum am vorigen Wochenende wahr. "Gütersloh sucht den Opernstar" könnte der Wettstreit heißen, würde er bei RTL laufen. "Neue Stimmen" hat Liz Mohn ihn genannt, als sie ihn vor 26 Jahren mit ihrem Mann, dem 2009 verstorbenen Bertelsmann-Patriarchen Reinhard Mohn, initiierte. Kein Tag verging in der Finalwoche, an dem die Präsidentin des Wettbewerbs und stellvertretende Vorsitzende der Bertelsmann-Stiftung sich nicht unter die Talente mischte, mit der Jury traf oder den Konzerten lauschte.
Wie erleben Sie die Atmosphäre in diesen Tagen, Frau Mohn?
Ich freue mich das ganze Jahr darauf, zusammen mit der Jury den Sängerinnen und Sängern zuzuhören und sie kennenzulernen. 1428 junge Menschen aus 69 Nationen haben in der Vorauswahl gesungen, 40 wurden nach Gütersloh eingeladen. Wo hört man schon so viele tolle Stimmen aus allen Teilen der Welt?

Lassen Sie sich von dieser aufgeregten Stimmung mitreißen?
Ja, natürlich. Hier kommt so vieles zusammen. Junge Menschen aus unterschiedlichen Kulturen begegnen sich zum ersten Mal. Obwohl sie im Wettbewerb stehen, sehe ich eine große Harmonie untereinander. Was wir da erleben, ist echte Völkerverständigung. Dennoch liegen Freude und Tränen oft sehr eng beieinander.
Müssen Sie auch mal trösten?
Oh ja, gerade habe ich mit einer jungen Sängerin gesprochen, die traurig darüber war, dass sie die Endrunde nicht erreicht hat, und mit ihrer Leistung unzufrieden war. Vielleicht war die Anspannung einfach zu groß. Außerdem ist niemand jeden Tag in gleich guter Form. Eine solche Situation kann ich gut nachempfinden.
Was sagen Sie denjenigen, die hier ausscheiden?
Dass nichts verloren ist. Wer es bei mehr als 1400 Bewerbern unter die besten 40 und möglicherweise sogar ins Finale schafft, ist bereits ein Gewinner. Das ist keine Niederlage, sondern eine Chance. Die Türen für eine Karriere, vielleicht sogar eine Weltkarriere, sind geöffnet, denn die Vertreter der Musik-Fachwelt blicken in dieser Woche nach Gütersloh. Es ist für uns immer wieder schön, zu sehen, wie sich die jungen Menschen entwickeln und in diesen Tagen zu Persönlichkeiten reifen.
Haben Sie zu vielen Teilnehmern Kontakt?
Ja, ich begrüße auch alle persönlich. Mir ist es außerdem sehr wichtig, dass wir die Teilnehmer nach dem Finale nicht aus dem Auge verlieren. Seit 1997 laden wir deshalb im Jahr zwischen den Wettbewerben 15 außergewöhnliche Talente zu einem internationalen Meisterkurs ein. Hier können sie an ihrer Stimme arbeiten und erhalten eine professionelle Beratung etwa durch international bekannte Gesangslehrer und Bewegungscoaches. In einem Abschlusskonzert präsentieren sie dann die Ergebnisse ihrer harten Arbeit vor Publikum.
Verfolgen Sie die Karrieren auch?
Natürlich. Es freut mich zu sehen, wie viele unserer Preisträger erfolgreich sind. Nathalie Stutzmann, die Gewinnerin unseres ersten Wettbewerbs 1987, ist mit ihrer Altstimme für viele eine der interessantesten Sängerinnen weltweit. Oder denken Sie an Vesselina Kasarova. Sie zählt seit über zwei Jahrzehnten zu den national gefragtesten Sängerinnen. Auch der Bass René Pape gehört dazu. Er kam 1989 einen Monat vor dem Fall der Mauer nach Gütersloh und machte beim Wettbewerb mit. Ein gutes Beispiel ist auch Christiane Karg. Sie hat in diesem Jahr das Semifinale mitmoderiert. Mit ihr verbindet mich eine Freundschaft, seit sie 2007 beim Wettbewerb war.
Wie entwickeln Sie diesen Wettbewerb weiter?
Er hat sich seit 1987 stetig weiterentwickelt. Aus dem "Europäischen Sängerwettstreit" ist ein Wettbewerb geworden, der in allen Teilen der Welt nach jungen Talenten sucht. Zudem verändert sich die Welt, und damit ändern sich die Anforderungen, mehr über den Wettbewerb zu erfahren. Wir sind mittlerweile auf Facebook und Twitter vertreten, übertragen die Konzerte via Livestream im Internet. Die Konzerte gehen um den Globus und werden damit vielen Menschen eher zugänglich als früher.
Ist Musik Ihnen privat genauso wichtig?
Musik hat mein Leben begleitet. In meinem Elternhaus, in meiner Kindheit als Pfadfinderin wurde viel gesungen, denn meine Mutter war sehr musikalisch. Singen verbindet. Selbst wenn wir die Texte nicht verstehen, können wir mitsummen oder uns emotional berühren lassen. Musik ist die schönste Sprache, die es gibt. Sie wird überall verstanden.
Bevorzugen Sie Klassik?
Ich höre Klassik gern und darüber hinaus alles, was entspannt.
Sie investieren viel Zeit in Projekte wie "Neue Stimmen" oder auch die "Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe". Warum hängt Ihr Herz so daran?
Es war sowohl meinem Mann als auch mir wichtig, mit den "Neuen Stimmen" ein Projekt zu schaffen, das den Opernnachwuchs gezielt fördert. Bei der "Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe sehen wir, dass unsere Maßnahmen den betroffenen Menschen helfen und wir zu einem starken Fürsprecher geworden sind, der das Thema in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt.
Die "Neue Stimmen"-Jury wird von Männern dominiert. Ist das Zufall?
Für die Jury gibt es keine Frauenquote. (lacht) Für uns stehen die Kompetenz und die Qualifikation jedes einzelnen Mitgliedes im Vordergrund.
Wie können Frauen es - nicht nur in der Musik - schaffen, stärker auf sich aufmerksam zu machen?
Viele Frauen sind heute hervorragend ausgebildet und erreichen oftmals viel bessere Abschlüsse und Noten als Männer. Ihre sozialen Kompetenzen werden dringend benötigt. Leider sind Frauen oftmals noch zu zurückhaltend oder wollen gefragt werden. Stattdessen sollten sie an sich und ihre Talente glauben. Und mittlerweile gibt es ja auch viele interessante Vorbilder, die selbstbewusst sagen "Das kann ich" und oft sogar "Das kann ich besser".