Auf unzähligen Catwalks hat Heidi Klum, 36, schon gestanden, doch hier in Berlin, beim Dreh von "Germany's Next Topmodel", gibt's ein Problem. Der Laufsteg ist zu hoch, ohne Hilfe kommt sie nicht hinauf. Schnell wird eine kleine Treppe durch die "Temporäre Kunsthalle" getragen, die für zwei Jahre auf dem Schlossplatz in Mitte steht. Schon kurz darauf ist Heidi wieder auf Augenhöhe mit den "Topmodel"-Mädchen, die auf ihren Einsatz warten. Es ist Generalprobe, die Zeit knapp.
In ein paar Stunden schon sollen Heidis 29 Kandidatinnen bei der Fashionshow von Anja Gockel, 41, die neue Winterkollektion der deutschen Modedesignerin präsentieren. Mit 200 Gästen hatte man gerechnet, aber nun haben sich doch fast 400 angekündigt. Während die Vorbereitungen auf Hochtouren laufen, erzählt die Designerin Gala: "Es bringt natürlich ein enormes Risiko mit sich, mit Anfängerinnen zu arbeiten. Für die Mädchen ist es einfach ein sehr schmaler Grat: Sie dürfen gern sympathisch-anders rüberkommen, aber bloß nicht unprofessionell."
Entsprechend groß ist die Nervosität bei den Nachwuchs-Models. Jede Einzelne weiß, dass nach dieser Challenge wieder einige die Truppe verlassen müssen. Aber wie geht man als Anfängerin lässig und unverkrampft über den Catwalk? Und wohin soll man schauen? Heidi - in schwarzen Leggings und schwarzem Oberteil - greift jetzt persönlich ein. Sie nimmt die unsichersten Fälle an die Hand und macht vor, wie es geht. "Du ziehst die Schultern ja fast bis an die Ohren. Mach dich locker", sagt sie zu der schwarzhaarigen Desiree. Gut zehn Mal läuft Heidi mit Kandidatinnen den Laufsteg auf und ab.
Die Mädchen stolzieren, schweben, trampeln - und alle wollen unbedingt den perfekten Schwung lernen. Immer wieder stecken Heidi und ihre Mit-Juroren, der Modefotograf Kristian Schuller, 39, und Marketingexperte Qualid "Q" Ladraa, 27, die Köpfe zusammen. Manchmal schütteln die drei sie auch. "Zum Glück muss ich nicht so hohe Absätze wie die anderen tragen", flüstert eine Teilnehmerin erleichtert. Anja Gockel berichtet: "Erstaunlich viele der Mädchen haben riesige Füße, wir haben aber nicht genug High Heels in den Größen 40 und 41 da." Profi-Models sind es gewohnt, dass sie nicht immer die perfekte Schuhgröße abbekommen - doch bei einer GNTM-Kandidatin gibt es deshalb Tränen.
Die Momente, in denen Heidi eingreifen muss, sind dennoch eher selten. Sie ist die Chefin, aber sie überlässt Kristian Schuller und Qualid Ladraa oft die Bühne. Beide sollen schließlich erst einmal ihre Rolle finden. Ladraas Stylistin tupft ihrem Schützling immer wieder das Gesicht ab. "Bei mir sieht man jede kleine Schweißperle", sagt er. "Gerade am Anfang ist es sehr anstrengend, weil es so viele Sachen gibt, an denen man arbeiten möchte. Und da ich Perfektionist bin, stresst das ganz schön." Ladraa ist eher der Kumpeltyp, er begrüßt die Mädchen mit einem High-Five-Handschlag. Schuller gibt mehr den Antreiber, er klatscht aufgeregt in die Hände, wenn die Models ihre Drehung nicht korrekt hinbekommen. Um den Hals trägt er eine kleine Kamera, mit der er immer wieder fotografiert. Mit einigen der Teilnehmerinnen wird es später ein Fotobuch geben, erzählt er.
Nach einer guten Stunde verlässt Heidi mit ihrem Vater Günther die Halle. Töchterchen Lou wartet - betreut von einer Nanny - im nahe gelegenen "Ritz Carlton"-Hotel. Es ist wieder mal Zeit zum Stillen. Nur wenn der Drehort komfortabel genug ist, nimmt Heidi Lou mit zum Set. "Sie ist eine sehr hübsche und unglaublich süße Kleine", schwärmt Qualid Ladraa.
Für die Models geht es währenddessen zum Schminken, im Backstagebereich sind 20 Tische eingerichtet. Schnell ist die Luft von den vielen Glühbirnen so aufgeheizt, dass die Kajalstifte weich werden. Zwei Teilnehmerinnen, Anna und Viktoria, die beide russische Wurzeln haben, sitzen auftoupiert auf einem Sofa und unterhalten sich in ihrer Muttersprache: "Das ist ein Vorteil, wenn man ein wenig lästern will, ohne dass die anderen das mitbekommen." Die meisten Mädchen sind sehr aufgeregt. Einige wegen der Show, andere wegen "der Heidi" - und wieder andere, weil die Eltern gar nicht wissen, dass sie hier sind. Erste Cliquen und Freundschaften haben sich bereits gebildet. Im Hotel schlafen jeweils vier in einem Zimmer. "Das ist ein bisschen wie auf Klassenfahrt", sagt Kera-Rachel, die immerhin schon ein paar kleine Modeljobs vorweisen kann.
18.30 Uhr: Die Halle ist gerammelt voll, hinter der Bühne herrscht hektisches Treiben. Anja Gockel lockert die Mädchen mit einem kleinen Tänzchen auf und überprüft ein letztes Mal die Outfits - kreative Business-Dresses, elegante Kleider mit überraschenden Schnitten, kuschelige Pullover, lässige Outdoor-Jacken. Jedes Model bekommt noch Roger-Dubuis-Schmuck umgelegt, dann setzen wummernde Beats ein. Los geht's. Doch plötzlich heißt es: Halt! Das TV-Team ist noch nicht so weit. Kurze Verwirrung. Der Grund: Die Kameramänner sind noch nicht postiert, erst als das geschehen ist, dürfen die Kandidatinnen der Reihe nach über den Catwalk marschieren.
Nach gut 20 Minuten ist die Show vorbei. Während den VIP-Gästen Sekt serviert wird, schlüpfen hinter der Bühne die Models erleichtert aus den Sachen. Anja Gockel ist happy: "Keine ist vom Catwalk gefallen, und nur eine Einzige hat ihren Auftritt verpasst. Alles in allem hat es perfekt geklappt, vor allem hat man das besondere Knistern gemerkt. Ich mache seit 14 Jahren Modenschauen, aber diese war die spannendste." Heidi kommt dazu, auch sie ist zufrieden, umarmt hier, hört dort zu, ermutigt und kritisiert. Während die Mädchen ins Hotel gefahren werden, wird auf den Schminktischen ein Buffet aufgebaut. Es gibt Hackbällchen, Lasagne und Kartoffelsalat.
Heidi setzt sich zum Team und isst mit. Es ist deutlich zu spüren: Sie genießt die entspannte und improvisierte Situation. Schließlich muss sie doch los, ihr Bodyguard Lars begleitet sie zum Wagen. Das Kind braucht sie - genau wie ihr Mann Seal, der in Los Angeles an seinem neuen Album arbeitet und einen Anruf von Heidi herbeisehnt. Feierabend ist also noch lange nicht, die Suche nach dem nächsten Topmodel hat gerade erst begonnen.
Mitarbeit: Alexander Stilcken