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Leben bei den Taliban Liv von Boetticher: "Teilweise kennen Männer die Frauen ihrer eigenen Brüder nicht"

Leben bei den Taliban: RTL Reporterin Liv von Boetticher in Afghanistan
RTL-Reporterin Liv von Boetticher in Afghanistan.
© Christoph Klawitter / RTL
60 Tage ist Liv von Boetticher mit ihrem Team in Afghanistan unterwegs. Ein Land, in dem Frauen keine Stimme haben und die Taliban an der Macht sind. Wir haben uns mit ihr über ihre Erfahrungen unterhalten.

Bereits am Flughafen in Dubai fallen Liv von Boetticher einige Dinge auf. Im Flugzeug ist sie, abgesehen von einer Stewardess und zwei weiteren Frauen, die einzige weibliche Person an Bord – und die Toiletten werden streng nach Männern und Frauen getrennt. Das Land selbst ist anders, als es sich die meisten Menschen vorstellen. Aber die Probleme sind sichtbar: unter anderem die fehlende Infrastruktur, schlechte hygienische Bedingungen, keine Kanalisation. Kaum Schulen, sobald sie die Städte verlässt und in vielen Gegenden kaum Frauen auf den Straßen, da sie nicht arbeiten oder ohne Männerbegleitung das Haus verlassen dürfen.

Afghanistan: Ein Land, in dem die meisten Männer ihr nicht die Hand geben, ihr nicht in die Augen schauen und ihre Fragen nur mit ihrem Sprachvermittler Christoph Klawitter klären, der seit Jahrzehnten in Afghanistan lebt – und das, obwohl sie eigentlich die Chefin ihres Teams ist. Zusammen mit dem Logistikexperten, der auch der Bundeswehr bei der Evakuierung nach dem Fall Kabuls geholfen hat, und ihrem Kameramann, war sie acht Wochen vor Ort.

Trigger-Warnung:

In diesem Artikel wird unter anderem über das Thema sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen gesprochen.

Liv von Boetticher im Interview

GALA: Hier in Deutschland denken die meisten Menschen an ein sehr unsicheres Land, wenn sie an Afghanistan denken und an gefährliche Situationen, die einem widerfahren können. Ist das überhaupt so?
Liv von Boetticher: Die meisten haben bei dem Gedanken an Afghanistan die Vorstellung im Kopf, dass es der gefährlichste und schlimmste Ort der Welt ist. Gerade nachdem die Bilder vom Sommer 2021, als die Menschen den Flughafen stürmten, noch so präsent sind und der Schutz des westlichen Militärs nun weg ist. Aber in den Vorgesprächen, die ich mit Christoph Klawitter schon ab Herbst geführt habe, hat sich bereits angedeutet, dass die Realität vor Ort eine ganz andere ist und es tatsächlich so ist, dass die Taliban, auch wenn das für uns erstmal sehr überraschend klingt, sehr viel Ruhe ins Land gebracht haben.
Denn diejenigen, die davor für die Anschläge verantwortlich waren, sitzen jetzt im Präsidentenpalast. Von dort aus geht keine Gefahr mehr aus. Das bedeutet im Umkehrschluss zum Beispiel für die Bevölkerung, dass die Straßen sicherer geworden sind und sie keine Angst mehr haben müssen, wenn sie unterwegs sind. Sie können nun aus einer entfernten Provinz ins Krankenhaus fahren, weil es so gut wie keine Bombenanschläge mehr auf den Straßen gibt.

Die Sicht auf die Frauen ist in der Bevölkerung vermutlich sehr unterschiedlich. Wie haben Sie das unter den Männern oder sogar den Taliban erlebt?
Es gibt mehrere Netzwerke, die teilweise sehr radikal und teilweise recht liberal sind und damit sozusagen "umgänglich". Das Haqqani-Netzwerk ist in meinen Augen das Schlimmste. Das war vorher in etwa der Fußtrupp der Bewegung, der auch für die komplexen Anschläge zuständig war. In deren Hand ist nun das Innenministerium und damit auch die Schulen oder die Polizei – alles, was mit der inneren Sicherheit oder der Funktionstüchtigkeit des Landes zu tun hat. Und bei denen hat eine Frau wirklich gar keinen Wert mehr.
Auf der anderen Seite gibt es aber noch das Kandahari-Netzwerk. Das sind sozusagen die Gelehrten aus Kandahar. Aus diesem Netzwerk hat uns ein Taliban-Kommandeur auf seiner Patrouille mitgenommen und uns erzählt, dass er seine Töchter gerne auf eine Schule schicken würde. Aber bei ihm gibt es überhaupt keine.

Also gibt es unter den Männern unterschiedliche Einstellungen zu den Werten und Regeln in Afghanistan? 
Ein Mann vom Kandahari-Netzwerk hat mir gesagt, dass er seine Tochter gerne zur Schule schicken würde und ich glaube auch, dass manche Männer das wirklich wollen. Aber sie können das gar nicht entscheiden. Das machen irgendwelche uralten Männer, weil das System auf einer Art Altershierarchie basiert. Die Anführer, die den meisten Respekt genießen und die meiste Macht haben, sind meistens uralte Männer. Und die haben sich natürlich nicht weiterentwickelt in den letzten 20 Jahren.
Aber wenn man die jungen Kämpfer anguckt, ist das anders. Die haben Smartphones und gucken sich beispielsweise auch Pornos auf Smartphones an. Sie haben Zugang zu solchen Inhalten und wissen gar nicht, wie sie damit umgehen sollen, wenn sie eine nackte Frau auf dem Handy sehen. In ihrer Welt kommt so was normalerweise gar nicht vor. Aber inzwischen haben sie eben den Zugang zu westlichen Medien.

Hat diese Entwicklung junger Afghanen Sie überrascht?

Ich war teilweise total geschockt. Die jungen Taliban sind sehr professionell, was beispielsweise Instagram oder Twitter angeht. Einmal war ich beispielsweise mit einem Medienbetreuer in Kontakt. Er war der Pressesprecher eines Mullahs und ist erst 17. Er meinte zu mir, er würde total gerne ein Stipendium in Deutschland bekommen, um dort zu studieren – und ob ich ihm nicht dabei helfen könnte.
Dieser junge Mann spricht vier Sprachen, beherrscht perfekt Englisch und Social Media und möchte jetzt in Deutschland studieren, um mit diesem Wissen zurückzukommen und etwas für sein Land aufzubauen. In manchen Teilen haben die Taliban also wirklich die Einstellung, das Land zwar nach traditionellen Werten aufbauen zu wollen, aber dabei gleichzeitig gut gebildet zu sein.

Wie Sie vorhin angedeutet haben, ist Bildung nicht weit verbreitet und viele Männer wissen beispielsweise nichts über allgemeine Dinge wie Sex oder den Körper der Frau. Das führt doch sicher zu Problemen ...

In einigen Gegenden kennen Männer teilweise die Frauen ihrer eigenen Brüder nicht, weil die Frauen nicht nach draußen gehen dürfen. Das war aber auch in den vergangenen 20 Jahren so und ist kein Problem, für das die Taliban verantwortlich sind. Es ist die Kultur. Viele Männer kennen außer der eigenen Frau, eventuell noch die Schwester und vielleicht die Schwägerin. Meistens heiraten sie im weiteren Familienkreis, beispielsweise ihre Cousine. Und die eigene Frau lernen sie meist erst in der Hochzeitsnacht kennen und wissen nicht, was sie tun sollen, weil sie nicht aufgeklärt sind.

Haben Sie darüber auch mit ärztlichem Fachpersonal sprechen können?

Mir hat ein Arzt, der seit rund 20 Jahren in Afghanistan arbeitet, Geschichten erzählt, die ich kaum glauben konnte. Aber das liegt einfach an der fehlenden Bildung. Es kam zum Beispiel ein Mann mit seiner Frau zu ihm, weil die Frau nicht schwanger wurde. Daraufhin ging die Ärztin mit der Frau zur Untersuchung und meinte später, dass der Mann versucht habe, die Frau durch den Bauchnabel zu penetrieren. Die Frau hatte am ganzen Bauch blaue Flecken. Solche Geschichten gibt es viel zu oft. In einem anderen Fall kam die Ärztin beispielsweise zurück und sagte dem männlichen Arzt, dass der Mann seine Frau "umdrehen" müsse.
Ich war völlig geschockt, als ich erfahren habe, wie weit verbreitet sexueller Missbrauch von kleinen Jungen ist. Der Fachbegriff dafür lautet „Badscha Bazi“, übersetzt in etwa „tanzende Jungen“. Jungen bis etwa 12 – 14 Jahren werden als Mädchen verkleidet und müssen für ältere Männer tanzen – und für sexuelle Zwecke verfügbar sein. Die sexuelle Entwicklung ist in Afghanistan (aber auch anderen Ländern der Region) aus meiner Sicht vollkommen gestört, Frauen haben ja kulturell bedingt keinen Platz und keine Rolle in der Öffentlichkeit. Es gibt keinerlei sexuelle Aufklärung, man spricht über diese Themen nicht in der Familie.
Junge Männer in der Pubertät haben keinen Zugang zu irgendetwas, wo sie sich ausleben können. Sie leben sich deshalb oft untereinander aus. Das heißt, es gibt sehr viel gleichgeschlechtlichen Sex, obwohl diese Männer nicht unbedingt homosexuell sind. Sie haben sozusagen nur sich – und es werden in dem Land auch sehr, sehr viele kleine Jungs missbraucht.
Es kam auch einmal ein Mann mit dem gleichen Problem zu dem Arzt: Die Frau wird nicht schwanger. Das betroffene Mädchen war aber erst zwölf Jahre alt und hatte ihre Periode noch nicht. Der Mann selbst war schon um die 60 und hatte selbst mehrere Töchter und mehrere Ehefrauen. Aber er wusste nicht, was die Voraussetzungen sind, damit eine Frau schwanger werden kann. Ich habe eine Vielzahl dieser Geschichten aus verschiedenen Quellen gehört und ich bin ratlos, wie man diese schwerwiegenden Probleme lösen möchte. Man braucht Bildung, Bildung, Bildung.

Das zeigt auch wieder, dass der Schutz von Mädchen und Frauen immer noch Priorität haben sollte. Ist es das, was das Land Ihrer Meinung nach jetzt am meisten braucht?

Es braucht vor allem Bildung und die Stärkung von Frauenrechten, aber gegen den Willen der männlichen Bevölkerung wird man da nichts erreichen können. Ich habe oft gedacht, dass, wenn es um die Frauenrechte geht, man das Land nie hätte militärisch verlassen dürfen. Es gibt einfach viel zu viele Männer, denen es ganz recht ist, wenn die Frauen keinen Platz in der Öffentlichkeit haben.
Es ist aber auch so, dass nach 20 Jahren, in denen das Militär dort war und wir Milliarden an Hilfen in das Land reingesteckt haben, es keine Industrie oder Infrastruktur gibt, die jetzt funktionieren würde. Die Nachhaltigkeit fehlt komplett. Dazu kommt die afghanische Mentalität: Man lebt dort sehr im Hier und Jetzt und nimmt in diesem Moment das, was man kriegen kann, ohne zu investieren. Was verständlich ist, denn sie hatten Jahrzehnte nicht die Sicherheit, dass das, was sie investieren, ihnen erhalten bleibt. Der Gedanke ist also, dass vielleicht irgendjemand wieder an die Macht kommt, der ihnen das alles wegnimmt. 

RTL-Reportage mit Liv von Boetticher

Leben bei den Taliban: RTL Reporterin Liv von Boetticher in Afghanistan
RTL-Reporterin Liv von Boetticher geht als einzige Frau über eine Straße in Afghanistan, die Männer schauen ihr neugierig zu.
© Christoph Klawitter / RTL

Liv von Boetticher ist seit etwa zehn Jahren mit Kamerateams unterwegs. Schon als Jugendliche möchte sie irgendwann aus Krisengebieten berichten. Doch der Weg dorthin ist schwer. 2015 wechselt sie zu RTL Deutschland, wo sie seit 2020 eine Redaktionsleiterin hat, die ihr diesen Wunsch erfüllt. In der Reportage "60 Tage Frauenhass – eine Reporterin bei den Taliban", zeigt sie das Leben in Afghanistan und berichtet mithilfe eigener spannender Eindrücke und den Gesprächen mit den Menschen vor Ort, wie es in dem Land zurzeit zugeht. Die Reportage läuft rund um den Jahrestag des Falls von Kabul, am 23. August 2022, um 22:35 Uhr und kann danach sieben Tage lang online auf RTL+ gestreamt werden.

lkl Gala

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